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Schöne neue (Einkaufs)Welt – Auf dem Weg zum gläsernen Kunden?

Nach der letzten Motorradtour war der Reifen am Hinterrad meines Motorrads bis zur Mindestprofiltiefe abgenutzt. Der Reifen am Vorderrad war eigentlich noch gut, aber nachdem ich kurz zuvor das Motorrad eines Freundes mit einer Bereifung eines anderen Herstellers gefahren war stand für mich fest, beide Reifen zu wechseln und auf eben diesen anderen Typ umzusteigen.

Zunächst der anschließende Prozess im Hier und Jetzt:

Wie gerufen lag bei der Rückkehr von besagter Tour die aktuelle Ausgabe meiner Motorrad-Zeitschrift mit einem umfangreichen Reifentest für Sport-Tourer im Briefkasten. Intensive Lektüre erbrachte vollständige Verunsicherung. Mein Wunschreifen lag zwar beim Verschleiß mit Abstand auf Platz 1, war aber in der Testkategorie „Nässehaftung“ nur im Mittelfeld.

Nässehaftung steht nun aber in meiner persönlichen Kriterienliste in der Priorität weit vorn – und dieses Kriterium erfüllte wiederum ein Reifenfabrikat mit Bravour, welches ich gar nicht auf der Rechnung hatte. Wohl auch deshalb, weil die Testergebnisse nur für eine ganz spezifische Spezifikation gelten, die erst seit kurzem ausgeliefert wird und noch gar nicht überall verfügbar ist.

So auch nicht bei dem Internet-Reifenhändler, über den ich schon früher berichtet hatte ). Er bietet mit der Bemerkung „(A=Auslauf) wird nach und nach mit Kennung M ersetzt“ die alte Spezifikation zum Sonderpreis an, die keiner haben will – ich auch nicht.

Und außerdem, wann ist denn nun „nach und nach“? Telefonische Beratung könnte man ja mal in Anspruch nehmen. Aber halt, nur Dienstag bis Donnerstag in der Zeit von 11.00h bis 13:00h (kein Scherz!)…

Frieren wir den Beschaffungsprozess an dieser Stelle relativer Ratlosigkeit ein und stellen uns vor, wie das Ganze zukünftig aussehen könnte, wenn die aktuellen Megatrends Social Media, Augmented Reality, Cloud, Big Data und location based services zusammengewachsen sind.

Zunächst einmal starte ich die App eines Reifenherstellerstellers und richte die Kamera des Smartphones auf meinen Hinterreifen, um sogleich festzustellen, dass mein eigenes Urteil über den Abnutzungsgrad nur als amateurhaft eingestuft werden kann. Aus dem Reifenbild und der Auswertung von Beschleunigungs- und Verzögerungswerten, Schräglagen und Geschwindigkeitsprofilen der letzten 1.000 km, die die App natürlich protokolliert hat, errechnet sie sogleich eine STVO-konforme Restreichweite dieses Reifens von 234 km.

Aufgrund der eingeschalteten Standortübermittlung kommt sodann der Vorschlag, die errechnete Restreichweite für die Fahrt zum Hockenheimring zu verwenden. Schließlich sei der Reifen aufgrund bisher ausschließlicher Verwendung im öffentlichen Straßenverkehr nicht gleichmäßig abgenutzt und habe noch Potenzial an den Flanken. Stimmt, jenseits der letzten Rille sind tatsächlich noch einige Stümpfe der „Angstnippel“ zu sehen.

Kaum habe ich das selbst festgestellt, kommen auch bereits die ersten Kommentare von „Freunden“ aus der „Biker“-Liste, Tenor: „Da geht doch noch was!“ Klar, Gummi ist auch Rohstoff, den sollte man optimiert ausnutzen. Aber wieso hat die App eigentlich das Bild von meinem Reifen hochgeladen und unter „Was machst Du gerade?“ „Reifen begutachten“ eingetragen?

Aber bevor ich zurückchatten kann, poppt der Hockenheimring auf und meldet: „10 Prozent auf den Normalpreis für das 10-Runden-Ticket“ – aber nur, wenn ich mich in den nächsten anderthalb Minuten entscheide: 1:29, 1:28, 1:27, … erbarmungslos zählt die animierte 3D-Uhr runter.

Gezuckt, gezahlt – und schon schlägt die App den nächsten Samstag 09:00h für die Abfahrt zum Hockenheimring vor. Der Quercheck mit der Wetter-App habe bestes Routen- und Ringwetter ergeben. Auf jeden Fall aber ohne Niederschlag, denn gerade mit nur „nahezu“ abgefahrenen Reifen muss Fahren bei Nässe ja nicht sein.

Sieben Runden wären auf dem 4.547 m langen Rundkurs drin, wenn ich anschließend, optimal abgenutzt und STVO-konform, noch zum nächstgelegenen lokalen Reifenhändler kommen wolle. Wie war das jetzt mit dem Rabatt auf das 10-Runden-Ticket? Und warum bietet mir die App, neben den Links zu den Reifenhändlern, nun auch solchen zu den lokalen, badischen Transportunternehmen mit Spezialisierung auf Motorradtransporte an? Rechnet sich da etwa jemand Chancen auf eine Kaltverformung auf der Rennstrecke aus?

Egal – die ursprüngliche Intention war ja die Ersatzbeschaffung von Reifen. Also erst einmal Reifen aussuchen. Die App bietet mir nun schön animierte Schieberegler für alle relevanten Kriterien an: Landstraße, Nässehaftung, Verschleiß, Preis.

Alle Regler auf maximal, den für den Preis natürlich auf minimal und los. Die folgende Meldung irritiert mich dann doch etwas: „Wir melden uns umgehend bei Ihnen, sobald wir die Gesetze der Physik ausgehebelt und die betriebswirtschaftlichen Grundsätze neu erfunden haben“. Also erst einmal rein in die „Einstellungen“ der App und den Radio-Button von „Klugscheisser“ auf „Experte“ umgestellt, die Anforderungen per Schieberegler etwas realistischer gesetzt – und schon listet die App nach einem kurzen Gegencheck beim Kraftfahrt-Bundesamt und Reifenherstellern alle zulässigen Reifentypen auf.

Wenn ich nicht so faul gewesen wäre und bei der Personalisierung der App außer dem polizeilichen Kennzeichen auch gleich die elend lange Fahrzeug-Identnummer angegeben hätte, wäre die Anfrage beim KBA(Kraftfahrt-Bundesamt) natürlich entfallen …

Mein Wunschreifen ist dabei, die Warenwirtschaft des Reifenhändlers beim Hockenheimring um die Ecke meldet ausreichende Verfügbarkeit und außerdem „Beim Kauf von 3 Sätzen dieses Typs erhalten Sie …“

Einen Satz auf die Felgen und zwei Sätze um den Bauch und als lebendes Michelin-Männchen Bibendum zurück nach Hause. Und das auch noch mit Reifen eines Mitbewerbers. Gab es eigentlich schon einen Präzedenzfall, dass die Rennleitung einen Motorradfahrer wegen zu viel Profils aus dem Verkehr gezogen hat?

Aber das ist natürlich viel zu stark im „Heute“ gedacht. Zurück in der Zukunft rufe ich die App des Nachfolgers vom Nachfolger von Kactoos.com auf. Mittlerweile natürlich längst auch in deutscher Sprache verfügbar, und gründe spontan eine neue Team-Buyer-Gruppe für meinen Wunschreifen. Wollen doch mal sehen, was bei 30 statt nur 3 Sätzen drin ist!

Ich nutze erst einmal nur den Link zur Terminvereinbarung für die Reifenmontage und vertiefe mich ansonsten erst einmal in die zahlreichen, „echten“ Kundenrezensionen von Käufern dieses Reifentyps. Die wenigen, die meine Wahl nicht so gut aussehen lassen, zeichnen sich einheitlich durch merkwürdige Satzstellungen und irgendwie schräges Deutsch aus. Sind also auch in der Zukunft noch mit ein wenig Sorgfalt als Crowdturfing-Beiräge zu identifizieren.

Samstags auf dem Parkplatz beim Hockenheimring. Ich denke noch, viele der Moppeds kennste doch. Es stellt sich heraus, dass der Ring-Betreiber die Mitglieder meiner „Biker“-Liste alle gleich mal zu einer Rabattaktion eingeladen hat: „10 Prozent auf den Normalpreis für das 10-Runden-Ticket“ …

Sieben Runden später und der optimalen Ausnutzung, zumindest des Hinterreifens, deutlich näher, betrete ich den Laden des Reifenhändlers, werde sogleich persönlich begrüßt und meine Reifen liegen auch schon parat. Na klar, weil ich die Standortübermittlung im Smartphone weiterhin aktiviert hatte, wusste er schon, dass ich komme.

Den Preis für die Abnahme von 3 Sätzen bekomme ich auch, denn es sind deutlich mehr als 3 Bestellungen unter Bezug auf die Team-Buyer-Gruppe geworden. Auf die Nachfrage nach weiterem Rabatt reagiert der Händler allerdings irgendwie sehr zurückhaltend, brummelt was von geringen Margen und „Leben und leben lassen“. Na gut, aber ein paar schöne abgewinkelte Ventile anstatt der unpraktischen, geraden Standardventile müssen schon noch drin sein.

Und während dann meine Reifen montiert werden pingt ständig mein Smartphone: „Das passt zu Ihnen, Herr …“ Na gut, wenn ich schon mal da bin, und außerdem, ein paar neue Handschuhe… Die Rechnung legt offen, dass die Ersparnis bei den Reifen von den Kosten für die Handschuhe gerade wieder aufgefressen wird – egal, immerhin noch die Winkelventile umsonst und die alten waren eh so langsam nicht mehr so. Das wird auch die beste Ehefrau von allen einsehen…

Die Rechnung wird natürlich via mobile payment beglichen, ein klassisches Portemonnaie hätte ja nur unnötiges Gewicht auf der Rennstrecke bedeutet. Und das leichtgewichtige Smartphone musste ja sowieso mit, allein schon wegen der App des Reifenherstellers zur Aufzeichnung von Beschleunigung, Verzögerung und Schräglage…

Kaum ist die Transaktion abgeschlossen, pingt das Smartphone schon wieder: „Ihr Link zur Unbedenklichkeitsbescheinigung“. Die Reifenfreigabe für meine neuen Reifen zu meinem Motorrad liegt jetzt also in der Cloud beim Nachfolger vom Nachfolger von Dropbox. Nur gültig mit eigenhändiger Unterschrift und Stempel vom Fachhändler… Na hoffentlich gibt’s bei der nächsten Kontrolle eine schnelle LTE-Verbindung (Long-Term-Evolution) und einen halbwegs technikaffinen Rennleiter.

Zu abgefahren?

Natürlich, jedem Datenschützer sträuben sich bei dem beschriebenen Szenario die Nackenhaare. Dabei sind viele der vorgenannten Technologien bereits heute verfügbar, und deren Konvergenz können wir uns gut vorstellen, wenn wir uns die Entwicklung einzelner Geräte wie Handy, PDA und Navi von der Jahrtausendwende zu den Smartphones von heute vor Augen führen.

Daher nur ein paar Zahlen[1] zur aktuellen Entwicklung:

  • Von Dezember 2010 bis Dezember 2011 wuchs der Anteil von Smartphones am Gesamtmarkt für Mobiltelefone in Deutschland von 25% auf 37%
  • In Deutschland scannten 15,6% der Smartphone-Nutzer QR-Codes, in den USA waren 73,9% davon zur Erlangung von Produktinformationen bestimmt
  • In den 5 größten EU-Staaten nutzten Ende 2011 78% ihr Smartphone als Zugang zu Sozialen Medien

Dabei ist die stetig steigende Nutzung von Tablets durch „Digital Omnivores“ noch gar nicht enthalten.

comScore, ein „Unternehmen zur Messung der digitalen Welt“, kommt zur Schlussfolgerung: “Smartphones have become consumers‘ most valued shopping companion, a trend that is poised to continue in 2012 (…)”

  • 28% aller erwachsenen US-Amerikaner nutzten bereits 2011 nach einer Studie von „Pew Research“[2]  soziale und mobile Location-based Services.

Und wie ging es tatsächlich weiter im Hier und Jetzt?

In einem ganz klassisch altmodischen Print-Medium fand ich eine Anzeige eines lokalen Reifenhändlers, der beide Reifentypen im Programm hatte. Ein Anruf bei, nennen wir ihn Felix, brachte die Entscheidung für meinen Wunschreifen.

Felix war bis zu seiner Existenzgründung als Mitarbeiter bei einem Reifenhersteller mit der Entwicklung von Motorradreifen betraut, hatte selbst jahrelang getestet und konnte mit Hintergrundinformationen aufwarten, die kein Test und keine Kundenrezension liefern kann.

Wissen und Kompetenz ist eben immer noch an Menschen gebunden!

Als ich am vereinbarten Tag ankam wurde ich persönlich begrüßt, meine Reifen lagen bereit und der Kaffee war frisch aufgebrüht. Ganz ohne aktivierte Standortbestimmung. Während der Montage blieb mein Handy ruhig und verhandelt habe ich auch nicht. Das gute Gefühl, durch kompetente Beratung den für mich richtigen Reifen gewählt zu haben – einfach unbezahlbar, vor allem beim nächsten Regenschauer!

Die „Unbedenklichkeitsbescheinigung“, mit eigenhändiger Unterschrift und Stempel von Felix, wurde mir direkt mit der Rechnung ausgehändigt und liegt seither altmodisch offline, aber griffbereit im Dokumentenfach unter der Sitzbank.

Aber natürlich – mit der flächendeckenden Verfügbarkeit von LTE (Long-Term-Evolution) wird alles anders!


[1] Quelle: comScore, „2012 Mobile Future in Focus“, Whitepaper 2012

[2] Quelle: PewResearchCenter Publications, 2011

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